Ein institutionalisierter Missstand

In kaum einem Bereich unserer Gesellschaft hat es im letzten halben Jahrhundert so wenig Fortschritte gegeben wie in Arzthaftungsprozessen – zulasten der Geschädigten. Unsere Gesetzgebung versagt darin, zu einer Schadensregulation zu gelangen, die ihren Namen verdient und das Elend der Betroffenen mindert.

Ich bin 1988 im Alter von 18 Jahren an Krebs erkrankt und verlor durch die Krankheit ein Bein. Nach Ende der Chemotherapie realisierte meine Familie, dass ich Opfer einer medizinischen Fehlbehandlung geworden bin und die Beinamputation hätte vermieden werden können, wenn die behandelnden Ärzte frühzeitig Röntgenbilder richtig gelesen hätten. In den letzten 30 Jahren führte ich deshalb drei medizinische Behandlungsfehlerprozesse - mit unterschiedlichem Erfolg. Den ersten Prozess vor dem LG München verlor ich - obwohl mir ein grober Behandlungsfehler zuerkannt wurde. Den zweiten Prozess vor dem OLG Hamburg gewann ich und ich erhielt Schmerzensgeld. Der dritte Prozess vor dem LG Hamburg endete mit einem Vergleich, dem zugestimmt zu haben ich heute bedaure, und der Zuerkennung von Schadensersatz. Derzeit führe ich einen vierten Prozess wegen diverser gravierender Spätschäden vor dem LG Hamburg.

Obwohl meine Bilanz damit erfolgreicher ausfällt als die des durchschnittlichen Klägers (denn die meisten Behandlungsfehlerklagen bleiben erfolglos), fällt mein Fazit desillusionierend aus. Nach wie vor erweisen sich die systemischen und strukturellen Hürden vor Gericht für Geschädigte als nahezu unüberwindbar. Seit einem halben Jahrhundert machen Selbsthilfegruppen und Betroffene Vorschläge, was sich ändern muss. Allein es fehlt an politischen Willen zu Reformen, die die übermächtigen Lobbyisten der Versicherungswirtschaft und Ärzteschaft erfolgreich blockieren.

Meine Erfahrungen vor Gericht

Nachfolgend fasse ich die Quintessenz meiner in 30 Jahren gesammelten Erfahrungen zusammen.

Ein Behandlungsfehlerprozess gleicht einem Kampf David gegen Goliath. Die meisten Geschädigten dürfte bereits das enorme finanzielle Prozesskostenrisiko, für das sie in der Regel aus eigener Tasche aufkommen müssen und welches von den gängigen Versicherungspolicen nicht getragen wird, von einer Klage abhalten. Die Wahrscheinlichkeit, neben einem gesundheitlichen noch einen finanziellen Schaden zu erleiden, ist überwältigend hoch.

Behandlungsfehlerprozesse ähneln einem Krieg. Sie werden mit Methoden geführt, derer sich große Konzerne mit ihrer Überlegenheit an finanziellen Ressourcen und Know how in ihren Auseinandersetzungen inter pares bedienen. Damit besteht von vornherein keine Chancengleichheit zwischen Kläger und Beklagten.

Kriegsentscheidend sind die Aussagen der Sachverständigen. Diesen fehlt es jedoch - und das ist das Hauptproblem - an Unabhängigkeit. Viele befürchten Nachteile für die eigene Karriere -  begründet oder eingebildet -, wenn sie Kollegen belasten. Denn bei den Beklagten handelt es sich in der Regel um große Klinikketten und damit potentielle Arbeitgeber, mit denen es sich niemand verscherzen möchte. Deshalb neigen die Sachverständigen dazu, Versäumnisse zu vertuschen und Fehler zu decken. So treibt sie eine falsch verstandene kollegiale Solidarität an.
Wer vor Gericht zieht, kämpft  einsam – ohne Verbündete – gegen eine Phalanx aus unterschiedlichen Interessen. Er kämpft gegen

  • einen pauschal jedes Fehlverhalten abstreitenden gegnerischen Anwalt
  • Richter, die sich auf die Aussagen der Sachverständigen verlassen müssen und deren oberstes Interesse darin besteht, die Mühe zu vermeiden, ein Urteil zu verfassen
  • gegen selektiv argumentierende und parteiische Sachverständige
  • gegen gleichgültige Krankenkassen
  • gegen einen Gegner, der in der Regel über einen längeren finanziellen Atem verfügt, und dem ein großes Netzwerk an medizinischer Kompetenz zur Verfügung steht, das er sich nutzbar machen kann
  • im ungünstigsten Fall auch gegen den eigenen Anwalt, wenn dieser falsch berät.

Wer vor Gericht zieht, begibt sein Schicksal in fremde Hände. Er muss wissen: Erfolg und Misserfolg hängen ab von

  • der Qualität des eigenen Anwaltes
  • von der Integrität der Sachverständigen
  • von der Bereitschaft des Richters, den Sachverständigen kritische Fragen zu stellen
  • vom persönlichen Engagement des Klägers und seiner Bereitschaft, dem eigenen Anwalt zuzuarbeiten (zum Beispiel durch die Aufbereitung medizinischer Lektüre, um eine Argumentationsstrategie zu finden)
  • von seiner persönlichen Leidensfähigkeit. Er wird die Erfahrung machen, dass sich seine Umwelt ihm entfremdet. Dass auch enge Freunde seine desillusionierenden Erfahrungen nicht nachzuvollziehen vermögen, weil das potentielle Ausmaß von Fehlverhalten ihr Vorstellungsvermögen sprengt. Ein Prozess belastet Kläger und Familien in so unerträglichem Ausmaß, dass er das Potential in sich trägt, Beziehungen zu zerstören.

Alle meine vier Prozesse folgten einem Muster, das den Zufall ausschließt: die Sachverständigen sagten gegen mich aus. Die Gerichte hätten es sich also einfach machen und meine Klage abweisen können. Dass sie diesen Weg - zumindest in Hamburg - nicht eingeschlagen haben, liegt daran, dass es mir gelungen ist, mit einer Armada an Privatgutachtern die Glaubwürdigkeit der Sachverständigen zu erschüttern.

Es ist sehr schwierig für Geschädigte, integre Privatgutachter zu finden. Wenn man fündig wird, dann handelt es sich bei ihnen in der Regel um pensionierte oder unabhängige Ärzte mit eigener Praxis, die nicht mehr primär die Motivation antreibt, Karriere machen zu wollen und die nicht mehr Teil eines offiziellen Systems bilden, von dem ihre Existenz abhängt.

Die Schadensersatz- und Schmerzensgeldsummen, die Opfern medizinischer Behandlungsfehler im Durchschnitt zugesprochen werden, sind in der Regel lachhaft. Sie fallen so gering aus, dass sie in vielen Fällen gerade einmal die Prozesskosten decken - und in ungünstigen Konstellationen sogar zu einem Zuschussgeschäft für den Kläger werden. Dies umso mehr, als die meisten Prozesse, die nicht mit einer Klageabweisung enden, einen Vergleich und damit auch eine Beteiligung an den erheblichen Prozesskosten zum Ergebnis haben.

Den Klägern wird ein Martyrium auferlegt und ein Aufwand an Energie, Geld, Geduld und Zeit abverlangt, das die meisten Menschen überfordert. Die übliche Dauer derartiger Prozesse - in der Regel mehrere Jahre - ist eine Zumutung. Eine schnelle, unbürokratische Schadensregulierung bleibt ein frommer Wunsch. Die Beklagten spekulieren darauf, Prozesse in die Länge zu ziehen. Sie machen deshalb das Durchprozessieren durch alle Instanzen zum Prinzip. Sie wissen: Die meisten Kläger werfen irgendwann aus Frust, Ohnmacht, Wut das Handtuch. Das ohnehin drückende Leid der Kläger wird dadurch potenziert.

Immer mehr Gerichte gehen dazu über, Kläger zu einem Vergleich zu „nötigen“. Das Kalkül: langwierige Verfahren vermeiden, Fälle vom Tisch bekommen, Kläger verhandlungsbereit machen. Beliebt ist hier die Strategie, Hindernisse, die einem erfolgreichen Ausgang im Weg stehen, überzubetonen. Viele Kläger lassen sich auf diese Weise einschüchtern und stimmen dann frustriert einem schlechten Vergleich zu.

In Deutschland besteht für Mediziner - anders als für Anwälte - keine Verpflichtung, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen. Dies entzieht im ungünstigen Fall einer Schadensregulierung von vornherein die Grundlage.

Es bleibt völlig unverständlich, warum keine inhaltlichen und formalen Vorschriften für die Anfertigung von Gutachten existieren. Meine Erfahrung zeigt, dass ihre Qualität mit ihrer Bedeutung für den Verfahrensausgang kontrastiert. Sie genügen häufig nicht einmal wissenschaftlichen Grundstandards. Auch existieren keine verbindlichen Vorgaben, welche Quellen Sachverständige heranziehen müssen. Ich habe erlebt, dass Gutachten sogar ohne Sichtung von Krankenakte und Röntgenbildern erstellt wurden. Einen Sachverständigen wegen qualitativer Mängel oder wegen Falschaussage in Regress zu nehmen, ist aussichtslos. Da die Mediziner um die ausbleibenden Sanktionen bei Falschaussagen wissen, fühlen sie sich in ihrem Treiben ermuntert.

Opfer medizinischer Behandlungsfehler sehen sich in der Regel alternativlos zu einer Klage gezwungen. Denn die Beklagten verweigern sich gewöhnlich einer Schadensregulierung. Sie stehen unter dem Druck der Haftpflichtversicherer, Schuldeingeständnisse um jeden Preis zu vermeiden.
Ein fähiger Anwalt ist zwingende Voraussetzung für eine erfolgreiche Klage. Es ist für Medizinanwälte jedoch finanziell lukrativer, Ärzte und Krankenhäuser zu vertreten. Deshalb finden sich die Besten ihrer Zunft häufig auf Seiten der Beklagten und es besteht ein Ungleichgewicht im Zugang zu hochwertigen juristischen Beistandsvertretern.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass mehrmals Befunde, ganze Krankenakten oder Teile davon nicht auffindbar waren, als ich oder das Gericht sie anforderten. Einmal verschwand ein Röntgenbild auf dem Weg der Weiterleitung vom Gericht an den Sachverständigen. Ein anderes Mal erbat ein von mir konsultierter Arzt Kopien mehrerer Röntgenbilder, um diese zu Lehrzwecken seinen Studenten zu zeigen. Später fiel uns auf, dass von diesen Bildern eines verschwunden war. Auf Nachfrage bestritt der Arzt, überhaupt Kopien angefertigt zu haben. Der Verdacht liegt nahe, dass er diese mit Vorsatz entfernte, um seine eigene Fehldiagnose zu vertuschen. Denn ich hatte ihn bereits Monate vorher aufgesucht. Beweisen kann ich das nicht, weil ich die Ausleihe der Röntgenbilder nicht habe quittieren lassen. Aber diverse Patientenvereinigungen, mit denen ich gesprochen habe, bestätigen dieses Phänomen.

Auch der Gang zu den Schlichtungsstellen der Ärztekammern führt meiner Erfahrung nach nicht weiter, weil diese nicht unabhängig sind und Alibi-Institutionen darstellen. Sie zeigen sich an einer objektiven Aufarbeitung von Behandlungsfehlern kaum interessiert und verfolgen vorrangig die Aufgabe, die materiellen Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Der Weg der Schlichtung kann für einen nachfolgenden Prozess sogar große Nachteile mit sich bringen. Denn eine mögliche negative Entscheidung in einem Schlichtungsverfahren erschwert die Durchsetzung von Ansprüchen in einem nachfolgenden Prozess, weil Sachverständige dann dem Erst-Gutachter eine Falschbegutachtung vorwerfen müssten und davor Skrupel haben.

Fazit

Einen Behandlungsfehlerprozess zu führen, ähnelt einem Kampf mit Windmühlen. Die Betroffenen werden strukturell und systemisch benachteiligt, weil sie sich vor Gericht mit einer Kette an Hindernissen konfrontiert sehen, die zu überwinden die Kräfte und Möglichkeiten der meisten Menschen übersteigt. Zudem sind die juristischen Prozesse mit einer Kaskade an unkalkulierbaren Szenarien und Unwägbarkeiten gepflastert, die selbst die beste Ausgangslage schnell ins Gegenteil zu kippen vermögen. Ohne einen extrem langen Atem sowie einen enormen Einsatz an Geld, Eigeninitiative, Leidensfähigkeit und Hartnäckigkeit ist dieser Kampf bereits in der ersten Runde verloren. Und selbst wenn der Kampf, wie in meinem Fall, mit einer Schadensregulierung endet, so fällt diese häufig höchst unbefriedigend aus, weil in Deutschland in der Regel viel zu niedrige Schadensersatzsummen zuerkannt werden, die die tatsächlichen und zukünftigen Schäden nicht angemessen widerspiegeln. „Für so ein Ergebnis habe ich so lange gekämpft und so viel Geld, Energie und Nerven verbrannt?“, fragen sich die Kläger verbittert am Ende. Profitieren tun von diesem System allein die Berufe, die es tragen. Rechtsanwälte, Richter, Gutachter – sie alle verdienen gut und üppig und unabhängig davon, ob sie erfolgreich gearbeitet haben oder nicht.

In der freien Wirtschaft hängt das Wohl und Wehe der Unternehmen daran, ob sie die Bedürfnisse ihrer Kunden erfüllen. Unzufriedene Kunden wenden sich ab und besiegeln so das Schicksal erfolgloser Unternehmen. Unser Rechtssystem hingegen operiert als Monopolist und kennt keine Wettbewerber. Es schert sich nicht um die Bedürfnisse seiner „Kunden“, weil diese von ihm abhängig sind und keine Wahl haben.

A. G.